Ich hätte so gerne, dass wir den Weltfrauentag nicht mehr brauchen.
Weltfrauentag? Fand ich immer uncool. Zu lila, überemanzipiert im klischeehaftesten und negativsten Sinne. Nicht einmal als Symbol dafür gut, für echte Gerechtigkeit in der Gesellschaft zu sorgen. Am nahbarsten erlebte ich ihn in Italien, wo sich Frauen am 8. März eingedenk dreier antifaschistischer Widerstandskämpferinnen hübsche Mimosen 🌼🌼 schenken + g’scheit Party machen.
Aber vielleicht brauchen wir den Weltfrauentag heute dringender als je zuvor. Eine Zusammenfassung der Misere – und ein abstrakt-hoffnungsfroher Blick in den Bauchtanzkurs.
Ja. Mimosen. Frauen. Hahaha. Selbstverständlich transportiert der Weltfrauentag im Schlepptau seiner Geschichte jede Menge Wut, Zorn und Empörung! Wut, Zorn und Empörung zum Beispiel darüber, dass Mädchen und Frauen jetzt, in diesem Moment, in jedem Winkel der Welt noch immer drangsaliert, verdroschen, beschnitten, versklavt, vergewaltigt und ermordet werden, und zwar WEIL sie Frauen sind. Darüber, dass Frauen in den meisten Ländern der Welt bis vor wenigen Jahren nicht wählen durften. Oder dass Frauen in Deutschland bis 1977 ohne die schriftliche Erlaubnis von Vater oder Ehemann kein Arbeitsverhältnis eingehen durften.
Wie kurz es erst her ist, dass Frauen in westlichen Ländern (vom Rest der Welt will ich erst gar nicht anfangen) vor dem Gesetz gleichzogen und vollwertige Personen mit denselben Rechten wie Männer wurden, ist eigentlich kaum zu fassen. Dass ich selbst zur gebenedeiten Frauengeneration gehöre, die das erste Mal in der Menschheitsgeschichte überhaupt von Chancengleichheit und Gleichstellung profitiert … das muss ich mir beizeiten immer mal wieder langsam auf der Zunge zergehen lassen, um es zu begreifen.
Mein Leben. Meine Freiheit. Meine Entscheidung.
Dass ich mein Leben so autonom gestalten kann, wie es mir eben passt, dass ich meinen Lebensunterhalt als Freiberuflerin selbst verdienen, dass ich nebenbei Tanz unterrichten und in meinem kleinen Rahmen künstlerisch tätig sein kann, ohne irgendjemand Rechenschaft ablegen zu müssen – das verdanke ich heute nicht mehr dem Zufall, einen netten, lustigen Mann oder einen netten, lustigen Vater zu haben: Ich verdanke diesen Umstand vor allem denjenigen Menschen, die sich strukturelle, kulturelle und systemimmanente Diskriminierung (siehe oben und gleich auch noch unten) einfach nicht mehr gefallen ließen. Sie ertrotzten sich Chancengleichheit – zumindest vor dem Gesetz – mit ihrer Wut, ihrem Zorn und ihrer Empörung. In der schönen Welt solcher Menschen gilt jeder vor dem Gesetz gleich.
Dann aber trägt es sich im Jahr 2017 zu, dass in Italien zwei der Vergewaltigung Beschuldigte im Revisionsprozess mit der richterlichen Begründung, dass das Vergewaltigungsopfer „männlich ausgesehen habe“, freigesprochen werden. Bumm!
Und neulich arbeitete ich in einer meiner Tanzstunden an der Armführung: Brustbein nach oben ziehen. Arme weit im Raum öffnen. Ellbogen fixieren. Mir fiel auf, dass diese eigentlich relativ einfache Position gleich mehreren meiner Bauchtanzmädels seltsam schwerfiel. Da äußerte eine von ihnen etwas, was mir noch viele Tage nachging: Sie sagte sinngemäß, dass sie sich so präsent, viel zu groß, viel zu wahrnehmbar fühle, wenn sie die Arme weit in den Raum öffne.
Da war es wieder, dieses bittere Gefühl. Wir Frauen finden also selbst, dass wir nicht präsent, nicht groß, nicht wahrnehmbar sein sollen? Wir erachten uns also selbst der Hauptrolle nicht würdig, nicht einmal in einem Tanzsaal? Gern hinter den Kulissen, aber bloß nicht ins Rampenlicht? Wo hört das auf? Wenn wir uns selbst nicht trauen, mit Haltung für uns einzustehen – wie lange dauert es dann eigentlich noch, bis wir am Ende selber finden, dass eine Geschädigte kausal deshalb nicht zu ihrem Recht kommen sollte, weil ihr Aussehen nicht in unser Gesellschaftskonzept passt?
Die perfekte Frau 🧚🏽♀️
Spätestens in dem Moment, als meine Tanzschülerin das sagte, wurde mir etwas dramatisch klar: Im 118. Jahr nach dem ersten Weltfrauentag, machen die Ereignisse eine Rolle rückwärts. Es geschehen wieder Dinge, die wir schon für überwunden geglaubt hatten. Denn es ist doch so: Mit der perfekten Frau meinen wir alle noch immer eine, die sich selbst im Äußeren verliert. Ein strichmännchengleiches, anorektisch-verklärtes, schönheitsidealisiertes Fräulein, das es als unweiblich empfindet, einen Raum mit Stolz und Würde und mit all dem, was es/sie eben verkörpert, für sich einzunehmen.
Ein Persönchen wie ein zartes Vögelchen, das bedürftig, klein, schwächlich und aus sich selbst heraus lebensunfähig nach Rettung fiept. Ein Persönchen, dessen menschliche Qualität sich maximal auf Titten, Beine, Tigh-Gap und Bikini-Bridge beläuft. Das die Erwartungshaltung unserer Pornowelt vorauseilend mit Gel-Nägeln, Schönheitsoperationen und dem richtigen Gewicht beantwortet – da darf die erste Stelle auf dem Display der Waage auf gar keinen Fall mit einer 8, einer 7, nur äußerst ungern mit einer 6 und idealerweise mit einer 5 oder 4 beginnen.
Weltfrauentag heißt jetzt „Woman’s Day“
Lang vor Beschneidung, Verdroschen- und Drangsaliertwerden, Versklavung, Vergewaltigung und Ermordung zwingt uns das Idealbild der Frau in einen grotesken Zirkus, in dem nicht wenige dem Irrtum erliegen, Kontrollsucht und Koketterie seien gleichbedeutend mit persönlicher Freiheit. Es bringt im Jahr 2019 zum Beispiel Frauen und Mädchen hervor, die sich ihre Schuhe ein, zwei Nummern kleiner kaufen, damit ihre Füßchen auch klein und schmal wirken (neulich ernsthaft von einem Schuhverkäufer gehört!). Es bringt sich zu Tode hungernde Mädchen hervor, die Tag für Tag im Selbstoptimierungskampf gegen Photoshop unterliegen. Aber als Frau kann man eben viele schlimme Verbrechen begehen. Etwa:
- Falten haben
- weder Thigh-Gap noch Bikini-Bridge noch Ab-Crack noch Size-Zero haben
- „fett“ sein (was „fett“ ist, bestimmt unabhängig von der Realität immer die Community!)
- älter als 22 werden
- zu große Schamlippen haben
- keine Kinder haben
- Kinder haben
- Cellulite haben
- Hängetitten haben
- geschminkt sein
- ungeschminkt sein
- (Liste beliebig ergänzbar).
Um derlei weibliche Kapitalverbrechen aufdecken und ahnden zu können, liegt die Schmierblättchenpolizei Tag und Nacht auf der Lauer. Sie verwertet zum Beispiel die Cellulite weiblicher Stars redaktionell und präsentiert sie der hämischen Leser-Gerichtsbarkeit zur gefälligen Kenntnisnahme als “Schenkelschande, Beulenpest und Wabbelwellen‘. Das Irrsinnige daran: Weder wehren wir uns gegen solche bis ins Unterhöschen übergriffigen Unverschämtheiten. Noch lassen wir ein anderes Maß zur Bewertung von Frauen zu, als den gesellschaftlich-maßregelnden Ratgeber-Blick auf unsere Körper.
Und so exerzieren wir wunderschönen, gestylten, haarfreien, nagelstudioversorgten, wellnessgestählten, yogamattenspirituellen, hyaluronverstärkten, im Raum winzig kleinen, vögelchenzarten Bürgerkrieger:innen täglich, stündlich, sekündlich gegen einen selbst erschaffenen Gegner auf unserem selbst erschaffenen Schlachtfeld. Und verlieren den Krieg – trotz des Einsatzes perfidester Mittel – am Ende doch gegen eine zu Tode gelangweilte, zum Mobben aufgelegte Gesellschaft. Die einen früher. Die anderen später.
Aber wir sind die Generation Bürgerkrieger:innen! Wild entschlossen, einen phantastischen Weiblichkeits-Kodex zu erfüllen, der da heißet: uns selbst und noch viel mehr unsere Körper zu hassen. Weil das allein ja zu nichts führt, müssen wir im zweiten Paragraf auch noch andere Mädchen und Frauen hassen, die besser aussehen oder irgendetwas besser können als wir selbst, und sie im Rahmen unserer Möglichkeiten bekriegen. Unseren eigenen Körper müssen wir auf Haut! Und! Knochen! herunterhungern. Die Körper der anderen machen wir zum Mobbingargument. Unsere Instanzen sind Heidi Klum, Instagram und lächerlich unerreichbare Schönheits-, Mutter- und sonstige Gesellschaftideale. Ab-Crack und Po-Implantat leisten wir als Offenbarungseid, um im Gegenzug dafür vielleicht ein rares Visum auf die roten Teppiche dieser Welt zu ergattern. Sie sind die einzig gültige Währung, um als menschliches Accessoire neben einem Erstligisten-Promi-Fußballer für kurze Zeit zur Geltung zu gelangen.
Und freilich! Unseren abartigen Selbsthass müssen wir natürlich offen zur Schau tragen, damit jeder dahergelaufene Honk in unsere ungeschützten Flanken treten, uns manipulieren und uns herumschubsen kann, wie es ihm gerade genehm ist. Die Gesellschaft applaudiert.
Höchste Eisenbahn, unser Koordinatensystem zu hinterfragen
Oh Mann, Weltfrauentag. Zielgruppen, die sich niemals gut genug fühlen, stellen ihre eigene Bedürftigkeit aufs Podest. Und das ist zum Beispiel gut für die Wirtschaft. Der Weltfrauentag (mit neuem Douglas-Wording: Women’s Day) verkommt zum Kommerzzweck, um Frauen gezielt mit immer noch abstruseren und noch teureren Produkten zu bewerben. #womensday
Die historische und politische Tragweite dieses Tages ist damit nicht mehr nur nicht mehr präsent, sondern verkehrt sich in ihrer Intension ins glatte Gegenteil. Ein pinkes, überteuertes Influencer-Gedöns, ein zielgruppenorientierter Absatzmarkt bleiben also übrig vom Freiheits- und Gerechtigkeitskampf, den mutige Frauen und Männer einst für uns ausgefochten hatten? Also ich glaube, wir sollten dem Weltfrauentag neuen Glanz verleihen und ihn in ein adäquates Koordinatensystem packen.
Denn bereits sicher geglaubte Errungenschaften stellen sich im Jahr 2019 als dumme Illusion heraus: Wegen eines mit harten Bandagen geführten Gesellschaftsdiskurses um Sexismus und Diskriminierung, der aus den Untiefen der Social Media in die Realität herauszustinken und sich als normal zu etablieren beginnt. #metoo #DonaldTrump Wegen aktionistischer und in ihrer Praktikabilität völlig verfehlter Albernheiten zur Gleichstellung – wie etwa einer behördlich angeordneten Gendersprache, die das glatte Gegenteil unserer zukunftswärts gedachten Anliegen zur Konsequenz haben werden. Wegen zweier #GenderPayGap-Sammelklagen von Google- bzw. Oracle-Mitarbeiterinnen, die monieren, dass die Konzerne Frauen systematisch weniger bezahlt haben, als ihren gleichqualifizierten männlichen Kollegen.
Wegen einer Silvesternacht, in der Männer zu Hunderten im öffentlichen Raum über wehrlose Mädchen herfallen konnten – und die Behörden dies auch noch zu verschleiern versuchten. Wegen immer dreister auf den Plan tretender, strategisch und ideologisch agierender Pick-up-Artists und … wegen ja, wie muss man denn so etwas überhaupt nennen … „radikal-patriachistischer“ vielleicht? – Autoren wie Jordan B. Peterson. Der Autor, den viele seine Leser für intellektuell halten, geht davon aus, dass die Vorherrschaft des “männlichen Prinzips” naturgegeben sei und verweist dabei hauptsächlich auf die Beziehung zwischen Hummer-Männchen und Hummer-Weibchen. Aha! ☝😂 Wegen der Weltreligionen, die seit Jahrhunderten bestens damit fahren, die Mär von der unterlegenen Frau als gottgewollt zu manifestieren. Wegen AfD-Figürchen wie Anne Cyron, die sich in anklagendem Lamento vor ihrer bierseligen Männerzuhörerschaft mit kruden, anti-emanzipatorischen, homophoben Ansichten in ihrer politischen Karriereleiter nach oben stammelt.
Ich hätte so gern …
Ich hätte so gern, dass sich Frauen, bei all dem, was vielen von ihnen ohnehin schon widerfährt, nicht auch noch ständig untereinander bekämpfen. Dass sie sich nicht selbst so hassen müssen, dass ihr Hass locker auch noch für andere ausreicht. Dass Vergewaltigungsopfern nie wieder hämisch selbst die Schuld in die Schuhe geschoben wird.
Und gern hätte ich auch, dass wir den Weltfrauentag überhaupt nicht mehr brauchen. Das wäre eine hohe Auszeichnung für unsere ganze Gesellschaft, denn dann hätten wir die Missstände, an die er uns erinnert, bewältigt. Aber so weit ist es eben noch lange nicht: Erst müssen wir wieder anfangen, uns selber ernst zu nehmen, uns laut und deutlich gegen Diskriminierung und Übergriffe zu wehren. Wir müssen anti-weibliche Ideologie analysieren, sie stigmatisieren und Menschen ächten, die sie zu verbreiten und etablieren versuchen. Denn nicht die stoische Hinnahme von Ungerechtigkeit, sondern die tägliche, mühsame Abgrenzung gegen Machtmissbrauch, die Wiederauflage von Wut, Zorn und Empörung und die zarte Fürsorge für sich selbst führen zur Freiheit.
Tja. Bewegen wir uns in winzigen Schritten. Ich hätte so gern, dass wir Bürgerkrieger:innen den Bauchtanzunterricht immer auch ein bisschen als Testfeld nutzen, auf dem wir uns fürs #RealLife empowern. Als Solotanz, hauptsächlich für Frauen, ist er im Grunde genommen dafür prädestiniert, um sich kritisch mit kranken Geschlechtersidealen auseinanderzusetzen.
Er hilft uns, unseren Körper kennenzulernen, und so anzunehmen, wie er eben ist. Und er setzt uns mit anderen Frauen in Begegnung. Miteinander können wir im Kleinen ein paar der Instrumente entwickeln, die unserer Gesellschaft im Großen fehlen. Zum Beispiel Respekt, Würde und Stolz sowie den Mut, für die eigenen Belange einzustehen. Präsenz, Gefühl für sich selbst und für andere. Im allerbesten Fall persönliche Autonomie und menschliche Freiheit.
Nutzen wir die mikroskopisch kleine Testumgebung „Bauchtanz“ nicht nur dazu, um einen der schönsten Tänze der Welt zu lernen. Nutzen wir sie auch, um bewusst aneinander zu wachsen.
Akzeptieren wir uns selbst, wie wir eben sind
Es ist nicht einfach, im Frieden mit sich selbst zu leben. Sich selbst zu mögen ist eine lebenslange Herausforderung. Im Tanz kann man diesen niemals zu Ende gehenden Prozess wie in einer Theaterrolle externalisiert trainieren. Man kann sich immer wieder neu entdecken, sich mit sich selbst und der eigenen Veränderung auseinandersetzen.
Der Tanz rüstet uns langfristig dafür aus: Er schenkt uns Kontrolle über und Gespür für den eigenen Körper. Er zeigt uns sowohl unsere eigenen Stärken als auch unsere Schwächen und Limitierungen auf. Er zeigt uns, dass sich die Schönheit von Menschen nicht auf konstruierte Moden und Hypes reduzieren lässt.
Tanzen zwingt uns, dann und wann ganz schrecklich über uns selbst zu lachen. Humor, Empathie, Verständnis und Nachsicht für die eigenen Schwächen wappnen uns gegen Menschen, die es nicht gut mit uns meinen. Und sie helfen uns, uns selbst, aber auch unsere Mitmenschen besser einzuordnen.
Denn die Wenigsten sind immer strahlend schön, glücklich und hundertprozentig leistungsfähig. Schrauben wir die Erwartungen an uns selbst auf ein realistisches Maß herunter. Akzeptieren wir uns, so, wie wir halt nun mal sind und verstehen wir, dass Ziele nur Zwischenetappen im großen Ganzen sind – als Tänzerin und als Mensch.
Akzeptieren wir andere, wie sie eben sind
Zugegeben: Die Freude über die Individualität, die Vielfalt und die diversen Talente unserer Mitmenschen erzeugt zwar keine so intensiven Gefühle wie Neid, Hass oder Missgunst. Aber dafür entlockt sie uns das ein oder andere kleine Lächeln, vielleicht sogar den ein oder anderen herzhaften Brüller, manch liebvollen Gedanken und ein nachhaltig gutes Gefühl. Sie versorgt uns mit positivem Gesprächsstoff, mit neuen Inspirationen und belastbaren Beziehungen.
Insofern kann ein Bauchtanzkurs das perfekte Bootcamp für die Begegnung mit Frauen sein. Hier geht es „nur“ um Ästhetik, Workout, Kunst, und nicht um existenziell wichtige Inhalte. In so einem Umfeld können wir stressfrei trainieren, andere nicht zu beneiden, weil sie eine Tanzfigur besser beherrschen oder weil ihre Taillen zwei Zentimeter schmäler sind. Im Gegenteil. Freuen wir uns lieber über die Stärken jeder einzelnen, lassen wir uns von fremden Kompetenzen und Ideen inspirieren. Etablieren wir uns gemeinsam als tolles, lernbegieriges Teamensemble, in dem jede von uns egal, wo sie steht, automatisch am richtigen Platz steht.
Enjoy yourselves
In Deutschland ist es gesellschaftlich nicht gern gesehen, wenn jemand unautorisiert zur Top-Form aufläuft. „Streber“ sein will hier keiner. Und so ergibt sich eine merkwürdig verkrampfte Schieflage beim Erringen um Bestleistungen, die anderen Kulturen völlig fremd ist.
Bei Frauen kommt diese Kultureigenheit gleich doppelt zum Tragen: Wer sich als Frau oder Mädchen durch individuelles Talent hervortut, riskiert die Isolation. Der neidvolle Blick, der Abgleich mit den anderen, Getuschel und Mobbing ist bei weiblichen High-Potentials vorprogrammiert. Das führt dazu, dass sich viele Mädchen und Frauen lieber extra zurücknehmen, um weiter mit der Gruppe laufen zu können und sich Anfeindungen zu ersparen.
Enttarnen wir dieses sich selbst immer wieder neu bedingende Programm. Denn es hört genau dann auf, wenn wir ihm keine Wichtigkeit mehr zubilligen.
Trauen wir uns doch einfach, zu unseren hundert Prozent aufzulaufen und üben wir das sofort mal im Tanzsaal. Genießen wir uns selbst, dieses coole Gesamtpaket an Lebens- und Bewegungsfreude, das uns unser Körper schenken will. Fokussieren wir auf das tolle Gefühl, das wir beim Tanzen erleben dürfen – vergessen wir stattdessen das, was andere von uns wollen. Lösen wir uns von dem Vermächtnis, nie die Beste sein zu sollen. Entdecken wir das richtige Tempo in unserem Leben und lassen wir uns nie mehr davon abbringen. Enjoy yourselves – vielleicht gleich jetzt, bei einem nachträglichen Weltfrauentagstänzchen (einen Anlass gibt es schließlich immer!)? Und anschließend gehen wir hinaus und verhandeln das Gehalt, das ein Mann an unserer Stelle verhandelt hätte, nach.
Lache über Kategorien, in die Dich andere pressen wollen
Männer sind super. Aber Pick-up-Artists und ihre menschenverachtende Macho-Ideoleogie sind eine verdammte Pest. Sie gehören geächtet, ihre Masche erkannt. Denn unter dem Radar breitet sich ihre abartige, im Internet virale, frauendiskriminierende Manipulationsstrategie immer schneller aus.
Frauen und Mädchen sind für Pick-up-Artists nichts weiter als Trophäen, die in Schönheitskategorien von 1 bis 10 einzusortieren sind. Mithilfe plumper, aber leider viel zu oft funktionierender Manipulationspsychologie reißen sie Frauen nach Schema auf, versuchen sie systematisch hörig zu machen, missbrauchen sie psychisch und körperlich und tratschen anschließend in einschlägigen Onlineforen über ihre armseligen, männlichkeitstrunkenen „Erfolge“.
Die megalomane Weltordnung von Pick-up-Artists versucht, Frauen an ihrer Bedürftigkeit zu packen und sie in Konkurrenz zueinander aufzustellen, wie auf einem Schönheitswettbewerb. Aber wir müssen uns da ja nicht hinstellen. Machen wir uns klar, dass es keine Aussage hat, ob irgendein dahergelaufener Wicht denkt, dass wir eine 1, eine 5 oder eine 10 sind. Er hat nicht mehr zu bieten, als seine kleinen Wicht-Kategorien. Weil er selbst nur ein Wicht ist, versucht er, uns erst zu entmenschlichen und zu entwürdigen – und uns dann zu manipulieren. Dann fühlt er sich gut.
Insofern die rhetorische Frage: Wollen wir uns der frei erfundenen, präfaschistischen Regieanweisung einer selbstgekrönten Dumpfbacken-Jury aus Frauenhassern und Psychopathen tatsächlich freiwillig unterwerfen? Ich bitte Euch. Schämt Euch nicht, sondern steht über armen Würsten wie Julien Blanc. Lacht sie aus. Akzeptiert ihre Weltordnung nicht. Dreht das System um und bewertet sie selbst nach ihren eigenen 1-bis-10-Wicht-Kategorien. Informiert Euch über ihre Methoden und begreift ihr Kalkül. Redet darüber, erzählt Eure Erlebnisse anderen Frauen und Mädchen.
Denkt fürsorglich an Eure Töchter, Freundinnen, Enkelinnen und setzt Euch dafür ein, dass auch sie in den kommenden Jahrzehnten noch von Gerechtigkeit, Sicherheit und Unversehrtheit profitieren können. Lernt, Pick-up-Artists und ihre Absichten zu erkennen, ihnen in die Augen zu sehen, ohne das Kinn einen Millimeter zu senken. Macht Euch extra noch ein bisschen größer, wenn sie Euch klein und demütig wollen.
Haltung beginnt im Körper. Also Brustbein vor, Kopf stolz, Schultern breit. Seid genau das, was sie nicht wollen. Werdet hellhörig, wenn sie Euch sagen, dass ihr zu männlich, zu dick, zu dünn, zu laut, zu ungeschminkt, zu billig, zu was auch immer seid. Jemand, der uns wirklich schätzt, sagt so etwa nicht.
Verraten wir uns also nicht selber. Das verzeiht man sich später schwer. Wir haben jeden Grund, uns selbst mehr zu vertrauen, als einem Wicht. Schotten wir unsere ungeschützten Flanken gegenüber Fremden ab, setzen wir auf Bedachtsamkeit in der Begegnung mit anderen und bleiben wir uns treu. Auch das lernen wir schließlich vom Tanz.
Autonomie statt Bedürftigkeit
Eigenverantwortung zu übernehmen, das bedeutet im Tanz, zu verstehen, wer man ist, wer man nicht ist, was man kann und was man nicht kann. Sich selbst einzuschätzen, sich nicht in Gefahr zu bringen, sich nicht zu verletzen und trotzdem zur bestmöglichen Tänzerversion von sich selbst zu werden.
Ein solches Empowerment entsteht nur langsam, aus unerträglich vielen, unerträglich kleinen Schritten. Doch die Mühe lohnt sich, wenn sich Bedürftigkeit damit systematisch in Autonomie wandelt. Transformieren wir unseren Zorn, unsre Wut, unsere Empörung, unseren Frust, unsere Enttäuschung und unsere Sehnsucht in Tanz – und von dort aus in echte, humanistische Kompetenz.
Nachträglich allen Tänzerinnen und Tänzern auf dieser Welt alles Gute zum Weltfrauentag.