Kennt ihr das? Ihr habt vor einiger Zeit zu tanzen begonnen. Anfangs mit mega Spaß und so viel Begeisterung! Eure tänzerische Entwicklung ging in Siebenmeilensprüngen voran. Ihr lerntet euren Körper und eure Seele von einer neuen Seite kennen. Ihr habt euch bewiesen, dass ihr euch so zu bewegen lernen könnt, wie ihr es selbst nicht für möglich gehalten hättet.
Aber irgendwann … ganz unmerklich … schlich es sich ein: Das Gefühl, ihr wärt an der Endstation all dessen angelangt. Nichts ging mehr. Ihr lerntet nichts mehr hinzu. Kopf dicht, Finale.
Nö, nö. Ihr steckt bloß in einem Liminal Space fest
Finale? Nö, nö. In Wirklichkeit seid ihr nicht an eurem Endpunkt angekommen – sondern ihr steckt in der Übergangssituation vor einem Wachstumsschub fest. Mir selbst geht das alle paar Jahre so. In solchen Situationen habe ich mir bisher immer vorgestellt, mein Zwergen-Ich stünde verzweifelt vor einer gigantisch großen Treppenstufe und schaffte es nicht aufs nächste Level.
Nie hätte ich gedacht – und deshalb schreibe ich jetzt einen Artikel dazu – dass ich einen Begriff finden würde, der all das auf den Punkt bringt. Aber es gibt sie, die Vorstellung von Liminal Spaces, Übergangsräumen vor dem Entwicklungssprung. „Liminalität“ war anfangs ein Denkmodell aus der Ethnologie. Es wurde um 1900 von Arthur van Gennep beschrieben und in den Sechzigern von Victor Turner weiterentwickelt. Gemeint hatten die beiden Ethnologen damit die Zeiträume, kurz bevor sich entscheidende Veränderungen in Kulturen etablieren und für festgetackert gehaltene Traditionen über den Haufen geworfen werden.
Aha!
Liminalität: Die Zeit vor Aufbruch, Umbruch, Wachstum
Im lateinischen Wortsinn bedeutet limen Schwelle oder Türschwelle (das Wort steckt zum Beispiel im „Limes“ der alten Römer). In diesen liminalen Zeiträumen an der Schwelle zum Auf- oder Umbruch geht’s gern mal ordentlich rund. Die Phase vor dem Wandel wühlt Gruppen oder sogar ganze Kulturen und Gesellschaften auf. (Merken wir ja grade, wie uns der Epochenwandel hin zur Digitalisierung durchwummst.) Alles ist auf dem Prüfstand, die vorher bestehende Ordnung wird gründlich hinterfragt, eine neue verhandelt.
Liminal Spaces – eine Idee wird vererbt
Die Vorstellung, dass sich Kulturen innerhalb von Liminal Spaces transformieren, ist so herrlich gegenständlich, dass sie von der Ethnologie bzw. der Soziologie in viele neue Fächer verliehen wurde: Heute spricht man auch in der Psychologie von Liminals Spaces, zum Beispiel wenn Jugendliche erwachsen werden. Speziell in der Architektur ist eine ganze Ästhetik der Übergangsräume entstanden.
Darüber hinaus werden mit dem Modell der Liminal Spaces religiöse und rituelle Wandlungsphänomene beschrieben und last but not least findet es auch in Filmen, in der Literatur sowie in der Popkultur der Social Media seinen Platz: Unter diesem Twitter-Bot könnt ihr euch Gefühlsatmosphären angucken, die #liminalspaces in uns auslösen. Und die Dämmerung ist die vielleicht schönste poetische Metapher für Liminalität.
Übergangsphasen im Tanztraining
Weil schon so viele an der Idee der Liminalität herrumgefrickelt haben, komme ich überhaupt erst drauf, dass der Begriff vielleicht auch Bedeutung für uns im Tanz haben könnten. Und ich erlaube mir keck, den Begriff für meine eigenen Treppenstufen-Erfahrungen zu kapern. Warum? Weil ich euch gar nicht mehr sagen kann, wie oft ich in meinen 30 Jahren Bauchtanztraning kurz davor stand, alles hinzuschmeißen.
Die Gründe waren immer dieselben: Monate-, jahrelang lief tänzerisch alles cool. Ich war im Flow, meine Gruppen waren cool, alles tanzte und kreierte sich von selbst. Aber plötzlich fand ich alles langweilig, sinnlos, nicht mehr herausfordernd. Ich verlor den Glauben an mich, an die Kontinuität des Tanzens. Ich fragte mich, ob ich überhaupt tanzen dürfe, ob ich überhaupt tanzen könne. Ich verlor den Glauben an die Luft nach oben. Ich wollte mich unbedingt neu erfinden.
In regelmäßigen Abständen stand ich in diesen dreißig Jahren wie bewegungsunfähig an der Türschwelle vor dem nächsten Raum und dachte, ich sei ganz bestimmt am Ende meiner Tanzfreude, meiner Tanzphantasie und überhaupt meiner Tanzfähigkeiten angelangt. Gewohnte Muster und Programme halfen mir in solchen Zeiten auf einmal nicht mehr weiter. Der Wunsch nach mehr ließ sich nicht mehr wegdrücken.
Wie oft das vogekommen ist? Kann ich euch nicht mehr sagen. Aber in jeder meiner Übergangsphasen stellte ich mir die Frage, warum und wie ich eigentlich weitermachen sollte.
Dranbleiben. Dann geht die Tür auf!
Aber – ich habe eben nie aufgegeben.
Wenn ich heute auf dreißig lange Bauchtanzjahre zurückblicke, dann erinnere ich nie die schütteren Zeiten des Übergangs. Ich sehe eine erfüllte, bunte, fröhliche Kette des lebenslangen Lernen- und Sichentwickelndürfens. Weil ich immer weitergemacht und die faden Wartezeiten auf der Schwelle ausgehalten habe, kann ich euch in der Gewissheit bestärken, dass die Zeiten im Übergang immer vorübergehen und dass sich die Tür zu eurem nächsten Tanzlevel unter Garantie öffnen wird. Immer! Ganz fest versprochen.
Durchschreitet den Liminal Space also mit Zuversicht. Wir können dabei so viel fürs Tanzen und fürs Leben mitnehmen: Zum Beispiel durchzuhalten, trotz und entgegen der Unzfriedenheit mit uns selbst. Wir können lernen, einen Struggle mit uns selbst als das zu sehen, was er ist: Nur ein Struggle mit uns selbst. Er geht vorbei.
Ich glaube an den Wert der Übergangsphase
So frustriert ich in meinen Liminal Spaces auch gewesen sein mag, irgendwann ging der Knoten immer auf. Ab dem Zeitpunkt wurde ich mit der nächsten Flowphase reich belohnt, neue Fähigkeiten, Chancen und Möglichkeiten hatten sich ganz ohne mein Zutun selbst ausgebrütet und von Zauberhand transformierte Skills standen mir ab da zur Verfügung.
Mit der Zeit habe ich akzeptiert, dass ich Zeit meines Lebens wieder und wieder an solchen Liminal Spaces, an den Türschwellen der eigenen Biographie, zum Halten kommen werde. Das ist okay. Denn ich weiß, dass ich reich belohnt werde, wenn ich das Gefühl, das in diesen Phasen entsteht, auszuhalten lerne.
Diese Erkenntnis möchte ich euch anbieten: Was auch immer ihr in eurem Leben mit Liebe tut – werft nicht gleich das Handtuch. Gönnt euch ein, zwei, drei Phasen des Auf- und Umbruchs. Durchschreitet entspannt ein paar Liminal Spaces und findet heraus, ob eure Begeisterung für das, was ihr tut, nicht vielleicht doch noch eine nächste Runde verdient hat.
Seid in solchen Zeiten verständnisvoll mit euch selbst, mit eurer Gruppe, mit euren Lehrer:innen. Denn ihr könnt euch darauf verlassen, dass ihr demnächst einen wichtigen Entwicklungsschritt auf eurem tänzerischen Weg gemeistert haben werdet.
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